Interview mit Peter J. Preusse.
„Altruismus gehört in die Gemeinschaft, nicht in die Gesellschaft“.
Anonyme Großgesellschaften werden regiert, indem ihnen ein süßer Gefühlscocktail verabreicht wird. Beeindruckt von seinem Geschmack lassen sich dann Bevormundungen, neue Steuern und Gängelungen leichter ertragen. Peter J. Preusse hat sich intensiv mit dieser emotionalen Konditionierung beschäftigt und will sie mit Rückgriff auf Schopenhauer und die Österreichische Schule (z.B. Hans-Hermann Hoppe) überwinden. Wir haben mit ihm gesprochen und setzen damit nach den Gesprächen mit Max Otte und David Engels unsere Interviewreihe fort.
Sehr geehrter Herr Preusse, Ihr Buch trägt den Titel Das sogenannte Gute. Warum ist diese implizite Distanzierung nötig? Oder anders gefragt: Was unterscheidet Sie von denjenigen, die „das Gute“ ganz genau definieren können und deshalb meinen zu wissen, wie ein Gemeinwesen aufgebaut werden sollte?
Peter J. Preusse: Ich kenne keinen, der „das Gute“ ganz genau definieren kann – solange man erstens nicht von religiöser Offenbarung redet und zweitens von einer Definition fordert, für mehr als den jeweils vorliegenden Fall zu gelten. Was Gott gebietet und was das moralische Gefühl fordert angesichts von konkret vor Augen geführtem Leiden, das ist für den Gläubigen und den Adressaten entsprechender medialer Botschaften immer klar.
Wenn aber der Blick sich soweit freimacht – emanzipiert – von der Leitung durch Dritte, also etwa durch einen Propheten oder durch ARD und ZDF, um mit dem mitzuleiden, dem etwa wegen versäumten Gebets die immer nachwachsende Haut immer wieder verbrannt wird und mit dem, der seine Tochter an einen messerstechenden Macho verloren hat, dann steht Gut gegen Gut.
Unser intuitives Verständnis des Guten lebt von der Einseitigkeit und Beschränktheit des Blickes, und die Übersetzung des aus der Kleingruppe stammenden moralischen Gefühls in den Maßstab der anonymen Großgesellschaft ist letztlich das Herrschaftsinstrument des einen Scheinwerfers in einem abgedunkelten Raum.
Wir sind uns vermutlich einig, daß die Intellektuellen mit ihren sehr konkreten Vorstellungen vom „Guten“ totalitären Gesellschaftsentwürfen den Weg gebahnt haben. Besonders verführerisch war dabei immer die Idee der Gleichheit, wie das ja Martin van Creveld sehr schön herausgearbeitet hat. Dennoch möchte ich unser intuitives Verständnis des Guten verteidigen und plädiere zugleich auch dafür, das größte Böse mit Hannah Arendt klar zu benennen. Für sie war dieses größte Böse die wurzellose Gleichgültigkeit.
In Anbetracht dessen stimme ich dem Philosophen Helmut Kuhn (Der Staat, 1967) zu, der das Gute in der „Bereitschaft zu öffentlicher Tätigkeit“ und in der „Selbsthingabe“ statt „Selbstbehauptungswut“ fand. Er begründet dies damit, daß Staatlichkeit ein Wesenszug des Menschen sei, den die äußere Ordnung nur noch in verschiedenen Varianten zum Ausdruck bringt.
Indem Sie den Begriff des „Selbsteigentums“ kultivieren, verneinen Sie die Existenz dieses angeblichen Wesenszuges. Die Menschheitsgeschichte ist aber doch nun Beleg genug dafür, daß es nie so etwas wie eine Robinson-Crusoe-Wirtschaft gab, sondern der Mensch stets Schutz durch Gemeinschaft anstrebte. Das Gebilde des Marktes konnte erst entstehen, als so etwas wie Staat die Händler vor den Räuberbanden beschützte. Warum übergehen Libertäre wie Sie solche Fakten, die sich ja ausführlich bei Autoren wie Sieferle nachlesen lassen?
Ja, die Idee der Gleichheit ist einer der beiden zentralen Fehler linker Weltsicht. Aus der uralten Stammesgeschichte der Menschheit, mitgenommen aus vormenschlichen Daseinsformen, haben wir das Gefühl von Gerechtigkeit geerbt, das sich am gleichen Ergebnis orientiert: Innerhalb einer Gruppe bekommt jeder – ggf. mit standesbezüglicher Differenzierung – den gleichen Anteil an der erjagten Beute und an gesammelten Früchten, unabhängig vom Beitrag, den er dazu zu leisten in der Lage war, solange die Gruppendynamik im Gleichgewicht ist.
Die „eigentliche“ Gleichheit der Menschen zu behaupten entgegen der evidenten Ungleichheit in so ziemlich jeder Beziehung, gerät deshalb zum Kerndogma linker Ideologie und erklärt deren erfahrungsresistenten Dauererfolg: Wir haben dieses Sozialverhalten in den Genen, und die „eigentliche“ Gleichheit ist das bitter nötige Pflaster fürs Ego der weniger Leistungsstarken. Die faktische Ungleichheit der Menschen anzuerkennen und nicht zu skandalisieren, ist dagegen das Verdienst der Rechten.
Der andere Webfehler der Linken ist die Höherwertigkeit des Kollektivs gegenüber dem Individuum, das wesentlich als von kollektiven Eigenschaften wie Klasse oder Rasse geprägt begriffen wird. Soweit die Rechte dem Kollektiv gegenüber dem Individuum eine höhere Bedeutung oder auch nur eine gleiche Daseinsursprünglichkeit beimißt und kollektiven Entitäten ein eigenes Wesen, Fühlen und Wollen beilegt, trifft auch sie der Vorwurf intellektueller Inkonsistenz, wenn nicht Unredlichkeit:
Es sind stets Einzelne, die denken, fühlen und wollen, und sich mit anderen Einzelnen in Gruppen zusammenschließen, in denen dann ein systematisch unübersehbares Geflecht oder Gewirr von offenen und verdeckten, bewußten und unbewußten Motiven und gruppendynamisch-massenpsychologischen Prozessen den Gang der Dinge bestimmt. Aggregatgrößen wie Rasse oder Volk oder Sprachgemeinschaft sind empirisch korrekte Abbildungen der Wirklichkeit, bezeichnen aber keine selbständigen Wesen, sondern eben Aggregate.
Daß Intellektuelle totalitäre Gesellschaften gewünscht und realiter gefördert haben, ist Konsens. Daß sie aber in irgend systematischer Weise „sehr konkrete Vorstellungen vom ‚Guten‘“ entwickelt hätten, ist mir nicht bekannt. Bei Marx, wenn ich dem intimen Kenner Konrad Löw glauben darf, steht so gut wie nichts über die konkrete Funktionsweise einer sozialistisch-kommunistischen Planwirtschaft.
Ludwig von Mises hat bereits 1922 bewiesen, daß eine wirtschaftlich effektive Ressourcenzuteilung und Produktion ohne freie Preisbildung am Markt auch für Produktionsmittel nicht möglich ist – was aber keinen Sozialisten davon abgehalten hat, das Blaue vom Himmel herab zu versprechen, wenn nur erstens der Markt „reguliert“ werde und zweitens er selbst in Vertretung des Volkswillens oder der unausweichlichen, wissenschaftlich notwendigen gesellschaftlichen Entwicklung die Geschicke aller lenke.
Lust an den Früchten fremden Schweißes und Machtgier auf der einen Seite, garniert mit zeitgeistigen Ad-hoc-Zauberrezepten, und Bequemlichkeit und Verantwortungsscheu auf der anderen Seite sind hier die Entstehungsbedingungen, nicht eine sehr konkrete Vorstellung einer sozialistischen oder national-autarken Wirtschaft.
Die altruistischen oder thymotischen, intuitiv zu Recht als gut bewerteten Züge des Menschenwesens, einschließlich der „Bereitschaft zu öffentlicher Tätigkeit“ und der „Selbsthingabe“, gehören ihrem Wesen und ihrer Entstehung nach in die menschliche Gemeinschaft, nicht in die Gesellschaft. Sie können freiwillig gegeben und in einer persönlich bekannten hierarchischen Gemeinschaft auch mit Bezug auf die dort herrschende Wertorientierung gefordert werden, da die Mitgliedschaft freiwillig und kündbar ist.
Bei dem territorial definierten Großgebilde eines Staates aber liegt die Sache anders (s. a. das ergänzend geschriebene Bürger zweier Welten): Die Mitgliedschaft darin ist eine Gefangenschaft, die ich allenfalls und mit unverhältnismäßigem Aufwand gegen die Gefangenschaft in einem anderen Staat vertauschen kann. Gesellschaft ist die unverzichtbare Erweiterung der Gemeinschaft, seit der Mensch den Zustand aller sonstigen Naturwesen verlassen hat, Natur nur zu nutzen ohne zu produzieren.
Daß er seit weniger als zehn Generationen den Zustand des permanenten Kampfes um die Subsistenz überwunden hat, verdankt er keinem Staat, sondern der Gesellschaft als dem Ort des Austauschs von Waren, Diensten und Ideen. Staaten haben diesen Prozeß begleitet, mal fördernd, oft störend, aber sicher nicht wesentlich ermöglicht. Wenn aus Geschichte überhaupt etwas zu lernen ist, dann dies: Sie ist eine Abfolge von Ereignissen, mit denen bis zu ihrem Eintreten niemand gerechnet hatte; ihr letzter Beweggrund sind menschliche Ideen, ohne welche Geschichte einfach Naturgeschichte sein würde.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Trotz meiner Zweifel an der Richtigkeit ihrer Geschichtsauffassung kann ich sehr vieles, was Sie sich zur Transformation der vorherrschenden menschlichen Ideen überlegt haben, vorbehaltlos unterschreiben. Der von Arnold Gehlen bereits benannten „Hypermoral“ die Ethik als „Wissenschaft vom Eigentum“ entgegenzusetzen, empfinde ich z.B. als sehr originell und wegweisend.
In diesem Zusammenhang erklären Sie auch, daß die „Moral der Nächstenliebe (…) seit jeher nur die Wahl zwischen Selbstüberforderung und operativer selektiver Blindheit gelassen“ habe. Wie wollen Sie das nun ändern? Die christliche Nächstenliebe hat schließlich eine Tradition über mehrere Jahrtausende. Ist es nicht eher so, daß lediglich eine katechontische Kraft die bewußte Erweiterung der Nächstenliebe zur Fernstenliebe aufhalten könnte?
Die entscheidende Frage! Ich selbst bin religiös unsensibel, oder, positiv gesprochen, habe für mich gelernt, das große Schweigen an der Grenze der Erkenntnis auszuhalten und zu akzeptieren. Wer sich ein Bild vom Unerkennbaren machen will, bitte sehr. Und wenn die Anleihe bei der Figur des „Aufhalters des Antichrist“ den Rücken stärkt, um so besser. Sowohl logisch als auch historisch-empirisch drängt sich aber die Frage auf, ob die Verdichtung eines Nichtwissens zum Glauben, zur Glaubensüberzeugung, zwingend zu etwas führt, das nicht nur in einer geschlossenen Gruppe zu einer gegebenen Zeit, sondern menschheitlich und überzeitlich, oder eben transsubjektiv, als „das Gute“ gelten kann. Gegenbeispiele finden sich mindestens in der vergangenen christlichen wie in der vergangenen und jüngsten islamischen Geschichte zuhauf.
Von daher halte ich mich nicht nur für mich selbst lieber an die diskursive, transsubjektiv kommunizierbare Ratio, welche allgemeingültige Ethik begründen kann, sondern setzte darein, ins Licht der Vernunft und in die Wärme der von der Vernunft beaufsichtigten Liebe, die verwegene Hoffnung, daß eines Tages eine kritische Masse von Intelligenz, Charakter und Aufklärung den Schwellenübergang ermöglicht, der zur Aufkündigung der Unterwerfung unter die Hegemonie der Herrschaft führen kann. Da das aber weit jenseits des persönlichen Zeithorizonts liegt, gilt vorerst für uns das Wort Dürrenmatts: „Die Hoffnung setzt die Hölle voraus und bewirkt sie.“
Herr Preusse, vielen Dank für das Gespräch!
Der Essay über Das sogenannte Gute. Zur Verwirrung um Ethik und Moral von Peter J. Preusse kann hier bestellt werden.
(Die Fragen stellte Felix Menzel.)