Wer wissen will, worüber die prägenden Köpfe der AfD im stillen Kämmerlein nachdenken, kann sich entweder die Kaffeesatzleserei des Politfeuilletons von ZEIT bis SPIEGEL antun und miträtseln, wer denn nun der größte Gesinnungsschurke ist. Oder Sie lesen die Bücher aus unserem Hause und werden entdecken, daß Alexander Gauland und Björn Höcke abseits des tagespolitischen Lärms sehr nuanciert und weitgespannt über die deutsche Geschichte und unser Volk nachdenken.
Dennoch löst natürlich auch das heftige Kontroversen aus. Das Gespräch von Sebastian Hennig mit Björn Höcke wurde so zum Corpus Delicti, das von Dieter Stein, dem Chefredakteur der konservativen Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT, skandalisiert wurde. Stein meinte die patriotische Opposition vor dem „Erlöser“ Höcke bewahren zu müssen, damit sich die AfD nicht schnurstracks in eine „rechte Sackgasse“ manövriere.
Er bekam dabei Unterstützung aus dem liberalen Spektrum der Mitte. Der Verleger Götz Kubitschek reagierte dagegen empört und der Publizist Baal Müller machte sich die Mühe, Steins Kritik in aller Gründlichkeit zu widerlegen. Was bleibt nun?
Auf jeden Fall ein Buch, das eine Diskussion erfordert, und das gezeigt hat, wie breit der Binnenpluralismus rechts der sozialdemokratisierten CDU ist. Es scheint hier Romantiker wie Höcke zu geben, Expressionisten wie Kubitschek und Pragmatiker wie Dieter Stein. Alle haben ihre Daseinsberechtigung und alle haben ihre unterschiedlich gelagerten Stärken. Weil das so ist, wollen wir die Debatte über Nie zweimal in denselben Fluss auf dieser Sonderseite dokumentieren und hoffen – versöhnlich gestimmt –, daß niemand neue Steine wirft, schon gar nicht gegen die eigenen Leute.
von Dieter Stein Junge Freiheit vom 28. Februar 2019
„Früh kam der Wunsch auf, an etwas Großem teilzuhaben“ bei dem AfD-Politiker Björn Höcke, der hier sein Leben in einem autobiographischen Buch („Nie zweimal in denselben Fluß“) schildert, das im vergangenen Jahr erschien. Es besteht aus einem langen Interview, das ein Journalist mit Björn Höcke geführt hat. Wie kein zweiter polarisiert Höcke seine Partei von Anfang an. Schnell wurde er nicht nur zur Haßfigur linker Medien und politischer Gegner, wurde er zum rechtsextremen Gottseibeiuns stilisiert. Auch innerparteilich scheiden sich die Geister an ihm. Seine teils schrägen Auftritte und großspurigen Reden sind irritierend. Seine Anhänger huldigen ihm hingegen wie einem Erlöser. Gütig lächelnd nimmt er mit ausgebreiteten Armen ihre Ovationen entgegen und genießt das rhythmische Skandieren seines Namens. Die Empörung über Höcke erreicht ihren ersten Höhepunkt nach der später von ihm selbst als verunglückt bezeichneten Dresdner Rede im Januar 2017, in der er eine „dämliche Bewältigungspolitik“ geißelte und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ forderte. Was soll eine 180-Grad-Wende bedeuten? Völliges Beschweigen der Verbrechen des Dritten Reiches? Es ist nur eines von vielen Beispielen, bei denen Höcke unfähig ist, den Ton zu treffen – womit er allerdings auch nicht allein ist.
Das linksextreme „Zentrum für politische Schönheit“ setzte im Frühjahr 2017 eine verkleinerte Kopie des Holocaustmahnmals auf das Grundstück, das Höckes Wohnhaus im thüringischen Bornhagen gegenüberliegt – eine perfide, menschenverachtende Aktion, die der thüringische Landtagspräsident Christian Carius treffend als „moralisch kaschierten Psychoterror“ kritisierte.
Schutzpatron aller, die die AfD in eine rechte Sackgasse manövrieren
Sein Buch soll nun den wahren Höcke zeigen. Wer ist aber dieser Mann, der andere Parteifunktionäre, die sich Sorgen machen über die Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz, höhnisch als „politische Bettnässer“ bezeichnet? Der sich grundsätzlich nicht kritisch öffentlich zu Wort meldet, wenn sich AfD-Politiker eindeutig antisemitisch oder rechtsextrem äußern? Keinen Mucks hörte man von ihm zum baden-württembergischen Abgeordneten Wolfgang Gedeon oder zu Doris von Sayn-Wittgenstein.
Er wurde zum Schutzpatron und Guru aller, die die AfD in eine rechte Sackgasse manövrieren: So beim großen Treffen im schwäbischen Burladingen, wo sich Anfang Februar die durch Parteiausschlußverfahren bedrohten Oberchaoten der Partei (darunter Gedeon, Sayn-Wittgenstein, Stefan Räpple) trafen: Der Saal war passend mit riesigen Höcke-Porträts dekoriert.
Gegen Anfechtungen der feindlichen Welt empfiehlt Höcke „Gelassenheit“: Abendliche Kontemplation findet er, so erfährt man es in seinem Werk, beim „Schwelgen in Erinnerungen“ vor einem Kaminofen und dem daneben hängenden Kunstdruck von Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“, wenn sein Blick „zwischen den Flammen und dem Wanderer hin und her“ wechselt.
Sollen solche auffällig übertrieben kitschigen Stellen dazu animieren, Höcke durch den Kakao zu ziehen? Andererseits – hat nicht gerade er wie kein anderer das Talent entwickelt, es in Populariät umzumünzen, wenn er von Medien als rechtsradikaler Hanswurst oder nationalromantischer Sektierer karikiert wird? Es scheint so, als ob er – oder seine Lektoren – diese Fährte immer wieder legen wollten.
In den Fußstapfen der größten Dichter
Bei einem seiner ihn selbst auszeichnenden edelsten Charakterzüge soll kein Geringerer als der Philosoph Martin Heidegger „direkt“ auf ihn „gewirkt“ haben: Seine „konservative Bescheidenheit“ will Höcke vom Meisterdenker vom Todtnauberg gelernt haben. Weder die von Höcke gepflegten Begriffe „Bescheidenheit“ noch „Demut“ hindern ihn aber daran, in den Fußstapfen der größten Dichter, Denker und Weltenlenker zu wandeln – nie scheinen ihm diese Schuhe zu groß zu sein.
Ob Friedrich der II. von Hohenstaufen, „der Flötenspieler von Sanssouci“, Bismarck oder Adenauer – kürzer darf die Elle nicht sein, an der sich Höcke messen lassen will, um sich von „mediokren Schweinchen-Schlau-Figuren der heutigen Parteiendemokratie“ abzusetzen. Sein inniger Wunsch: „Macht und Geist müssen einst wieder konvergieren.“
Während andere Politiker versagen, weil sie keine „sittlich gefestigten Menschen“ sind, weil ihr „Charakter und Horizont“ es nicht erlaubt, „sich dem destruktiven Strudel zu widersetzen“, räumt Höcke selbstkritisch ein, daß es auch bei ihm „immer wieder innere Kämpfe“ gebe, „aber in grosso modo“ könne er „bis heute in den Spiegel schauen.“
Und was sieht Höcke, wenn er in den Spiegel schaut? Offenbar einen kommenden, großen Staatsmann, der sein Volk wieder aus den Niederungen ins Licht führt. Er weiß, „daß am Ende die überschlauen Taktierer und Finassierer doch den Kürzeren ziehen werden, weil die Menschen instinktiv den integren Führungspersonen folgen.“ Und sinnierend stellt er fest, daß der alte Kaiser Barbarossa in der Höhle des Kyffhäuserberges schlafe, „um eines Tages mit seinen Getreuen zu erwachen, das Reich zu retten und seine Herrlichkeit wiederherzustellen“.
Ja, wir Deutschen sehnen uns „nach einer geschichtlichen Figur, welche einst die Wunden im Volke wieder heilt, die Zerrissenheit überwindet und die Dinge in Ordnung bringt, die tief in der Seele verankert sind“, ist Höcke überzeugt. Dreimal darf man raten, wer diese geschichtliche Erlöserfigur wohl sein wird.
Höcke will der einzige sein, der nicht korrumpierbar ist
Höcke sieht voraus, daß es zu einem umfassenden „Machtwechsel“ kommen wird, wenn sich das Blatt in unserem Land politisch wendet. Dann werden „ein paar Korrekturen und Reförmchen nicht ausreichen“. Da ist ja sogar was dran, aber nicht mit solchem grauenhafte Bilder weckenden Geraune: „Die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, daß wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen.“ Prost Mahlzeit.
Obwohl das „politische Kurzpaßspiel“ derzeit ende und auf einen „robusten Kick-and-rush-Modus“ umgeschaltet werde, bittet Höcke die lieben Parteifreunde vorsorglich, nach „der Wende“ trotz aller Wut besonnen zu reagieren: „Etwaigen Rachegefühlen darf man dann keinen Raum geben“, das „christliche Vergebens- und Gnadengebot“ werde „vielleicht einmal viel von uns abverlangen“.
Höcke nimmt in Kauf, in Ton und Wortwahl abgründige und abstoßende Assoziationen zu wecken – weil er sich absichtlich unklar ausdrückt. So formuliert er, daß mit der bald ins Haus stehenden „Wendephase … harte Zeiten“ bevorstünden, denn: „Um so länger ein Patient die drängende Operation verweigert, desto härter werden zwangsläufig die erforderlichen Schnitte werden, wenn sonst nichts mehr hilft.“
Die politische Führung habe dann „schwere moralische Spannungen auszuhalten“: „Sie ist den Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet und muß aller Voraussicht nach Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigenen moralischen Empfinden zuwiderlaufen.“ Bei einem notwendigen „großangelegten Remigrationsprojekt“ ließen sich „menschliche Härten und unschöne Szenen nicht vermeiden, für die „wohltemperierte Grausamkeit“ notwendig sei, ein Begriff den Höcke sicherheitshalber bei Peter Sloterdijk ausgeliehen hat.
Höcke verschweigt, daß Sloterdijk mit seiner Formulierung zuvor Empörung und Mißverständnisse ausgelöst hatte. Der Philosoph hat wenigstens unter Verweis auf Kanada und Australien erklärt, welche Einwanderungspolitik seiner Meinung nach „grausam“, also hart und dennoch rechtsstaatlich sei. Höcke spielt stattdessen mit dem Begriff ohne Erklärung und provoziert absichtlich neue Mißdeutungen – auf Kosten seiner Partei.
Ein rotes Tuch
Wie geht nun Höcke aber damit um, daß er nicht nur bei politischen Gegnern auf schärfste Ablehnung stößt? Eine repräsentative Insa-Umfrage im Auftrag der JUNGEN FREIHEIT ergab Anfang 2018, daß Höcke bei AfD-Anhängern mit Abstand die schlechtesten Zustimmungswerte hat und die Mehrheit der AfD-Wähler sich eine stärkere Abgrenzung vom rechten Rand wünscht. Wie kommt es also dazu, daß „ausgerechnet“ er „auf viele wie ein rotes Tuch“ wirke, obwohl sich doch seine politischen Aussagen „kaum“ von denen anderer AfD-Politiker unterschieden, fragt sich Höcke? Ja, warum bloß?
Ihn habe das „anfänglich auch überrascht“, gesteht Höcke. Doch dann ist er der Sache auf den Grund gegangen: Die „politische mediale Klasse“ habe – „mehr unbewußt als bewußt“ – erkannt, daß er (scheinbar als einziger in der gesamten Führungsriege der AfD) „nicht einfangbar“ sei, daß er (im Gegensatz zu allen anderen?) „durch Verlockungen des Establishments nicht korrumpierbar“ sei. Nur bei ihm sei klar: „Ein wie auch immer geartetes Arrangement wird es mit mir nicht geben.“
Jene anderen „Mitstreiter“ in der AfD, die dem „Dauerbombardement“ von Medien und Gegnern nicht standhalten, verlören offenbar die Nerven. Höcke: „Ja, als Notventil fangen einzelne dann mit hektischen Abgrenzungen und Distanzierungen an. Ich kann nur wiederholen: wir müssen gelassen bleiben.“
Höcke will es nicht bei einer kleinkarierten politischen Wende belassen: Die erforderliche „großräumige Renovation“ schwebt ihm „im Kontext einer ganzen Geschichtsepoche“ vor. Die Tatsache, daß das 1947 von den Alliierten aufgelöste Preußen „von elementarer Bedeutung für die Erneuerung unseres Gemeinwesens“ war führt zum Horizont der „vollkommen falsch angelegten Globalisierung, die … beendet werden muß.“ Den Königsweg zum künftigen Höckeland ebnet der politische Theologe: Nur eine „erneute Reformation in Deutschland“ garantiert „die Sicherstellung des Ansiedelungs- und Gestaltungsmonopols eines Volkes in seinem Land“.
Höcke weiß gar nicht, was er will
Mag sein, daß es eine Klientel gibt für solche Träume von der ganz großen Keule, die ausgepackt werden muß, um „das System“ zu zerschlagen und alles neu aufzubauen. Aber selbst diejenigen, die Höcke auf diesem Weg zu folgen bereit wären, dürften irritiert sein, daß er wie schon in seinen öffentlichen Auftritten, so auch in seinem Buch immer wieder Rückzieher macht und plötzlich als ganz harmlos dastehen möchte. Wer nämlich von Höcke den großen Revolutionsplan erwartet, stellt am Ende des Buches fest, daß der Tiger als Bettvorleger landet.
Auf fast dreihundert Seiten stilisiert Höcke sich als Inbild des künftigen Politikers, der nicht simpler Reflex des Wahlvolkes zu sein habe, sondern ihm als Lehrer und Zuchtmeister die „wahren Werte“ beibringen solle. Als elastischer Wiedergänger des Goetheschen „Wilhelm Meister“ schwingt er sich in die Veredelungs-Loipe des deutschen Entwicklungsromans und läßt uns teilhaben an den Irrungen und Wirrungen seines Lebens- und Bildungsgangs. Kein Detail bleibt unbeleuchtet.
Warum ihm die Heilige Schrift wenig bedeutet? „Die biblischen Geschichten waren für mich Begebenheiten aus einer zu fernen Welt – es gab da zuviel Wüste und zuwenig Wald.“ Wem auch immer an Höcke etwas liegt, der hätte wenigstens diese absurde Äußerung gestrichen. Andersrum wird nämlich ein Schuh daraus: Der Religionsphilosoph Hans-Joachim Schoeps hat auf eine tiefere Verwandtschaft Preußens und Israels hingewiesen: In beiden Fällen, bei der Wüste des Nahen Ostens und bei der norddeutschen Tiefebene, handele es sich um ungeschützte Räume, in denen zum Schutz gemeinschaftlichen Lebens das Gesetz aufgerichtet wurde, damit der innere Halt den Mangel des äußeren kompensiere.
Im Grunde weiß Höcke gar nicht, was er will. Einmal erklärt er das Gewissen zur entscheidenden politischen Urteilsinstanz, dann ist es plötzlich die Suche nach Kompromissen; einmal will er aus Verantwortung für das eigene Volk handeln, dann aber plädiert er für „Wirklichkeitsverachtung“ – beides auf einer Seite. Einerseits will er die „Grenze des Sagbaren immer wieder mit kleinen Vorstößen“ erweitern, andererseits empfiehlt er eine „allgemeine Mäßigung im Ton“.
Einmal erklärt er den Begriff „völkisch“ für untunlich, nur um dann aber das Grundgesetz selbst als „völkisch“ zu bezeichnen. Einerseits will er die AfD „von einem dämonisierten Außenseiter zum Teilnehmer an der demokratischen Normalität“ mit kompromißbereiter Regierungsverantwortung machen, andererseits lehnt er jeden Ausgleich mit der politischen Klasse, den „herrschenden Obernichtsen“, ab und beschwört den Volksaufstand. Ja, was denn nun?
Kein Konservativer, sondern ein ideologisches Irrlicht
Höcke lehnt es ab, als rechts oder auch nur als konservativ bezeichnet zu werden. Was zu dem wenigen wirklich Überzeugenden in diesem Buch zählt. Denn sein Gerede von der Notwendigkeit, „Bewegungspartei“ zu bleiben, sowie die „Degeneration“ und „Verknöcherung der Oligarchisierung“ aufzuhalten, verrät, daß er die Bedeutung von Institutionen nicht verstanden hat und seine Beschwörung von Ordnung nicht ernst zu nehmen ist. Er ist ein ideologisches Irrlicht: Er polemisiert ausdrücklich gegen jene Konservativen, die immer noch die Ordnung verteidigten, obwohl doch längst klar sei, daß alles fallen müsse, bevor man an den Wiederaufbau gehen könne.
Daher sein Plädoyer, mit der Linken zusammenzuarbeiten, um zu einer „kapitalismusüberwindenden Position“ zu gelangen und einen nationalen Sozialismus zu schaffen, den er natürlich nicht so nennt, sondern „solidarischen Patriotismus“ mit – Achtung Carl Schmitt! –„Investitionsverbot raumfremden Kapitals“.
Und dann kommt das klägliche Ende: Wenn er abschließend sagen soll, was er konkret im Rahmen seines umfassenden gesellschaftlichen Umbaus ändern wolle, produziert er nichts als heiße Luft: „Die Details eines Neubaus sollten und können nicht von oben verordnet, sondern in einer großen, gemeinsamen Aussprache ermittelt werden.“ Stuhlkreis? Flipchart, Cluster mit Klebepunkten? Höcke: „Es gibt viele Ideen und Ansätze zu diskutieren, zu bewerten und abzuwägen, bevor sich eine Entscheidung herauskristallisiert. Bei der Umsetzung wird man nach dem Prinzip ‘Trial an Error’ verfahren, manches wird funktionieren, anderes nicht.“ Besser hätte es Angela Merkel auch nicht sagen können.
Nichts Originäres oder wenigstens Orginelles hat dieser redselige, weitschweifige „metapolitische“ Möchtegern-Vordenker zu bieten. Nicht einmal irgend etwas Konsistentes. Auf die Frage nach seinem etwaigen politischen Scheitern antwortet Höcke mit einem Rat seines Vaters: „Am Ende bleibt immer noch ein guter Wein und die Philosophie.“
Was für eine Scheinalternative!
Im Vorwort bejubelt Alt-68er und Tumult-Herausgeber Frank Böckelmann Höcke und erkennt die „entscheidende“ Frage darin, „ob man im Wesentlichen auf ein Arrangement unter den politischen Kräften in ihrer gegenwärtigen Konstellation hofft oder der Realität, der absehbaren Entwicklung, die bessere Überzeugungsarbeit zutraut“. Was für eine falsche, was für eine Scheinalternative! Mit ihr begründen Akteure von Höckes „Flügel“ regelmäßig ihre demonstrative Disziplinlosigkeit und verbale Rücksichtslosigkeit, die sie auch noch als politische Tugend verkaufen.
All jene in der AfD, die sich nicht auf den Weg der am Ende unpolitischen Selbstradikalisierung begeben, in Parallelwelten isolieren und in Endzeit- oder Erlösungsphantasien ergehen wollen, stehen vor der Frage, ob sie diesen Weg in den eskapistischen Untergang mittragen und sich in eine falschverstandene Solidarität zwingen lassen sollen.
Höcke kümmert es nicht, daß nicht wenige der von ihm selbst erwähnten „Menschen mit Sachverstand“, mit „beruflichen Erfahrungen im normalen bürgerlichen Leben abseits des Politikbetriebs“, die AfD längst wieder verlassen haben – oder, wenn sie noch da sind, nicht wegen, sondern trotz Höcke weitermachen und jedenfalls keine Lust haben, an einem Umsturz „des Systems“ teilzunehmen, selbst wenn der in Gestalt eines Stuhlkreises daherkommt, um mit der „Nach-Moderne“ die „wirklich neue Ära vorzubereiten und einzuläuten“.
An seinen Eltern lobt Höcke die Art und Weise, wie sie mit seinem „unbändigen Drang nach Freiheit und Abenteuer“ umgingen: „Sie ließen mir hier großen Freiraum und akzeptierten auch die damit verbundene Disziplinlosigkeit.“ Im Rückblick wünschte er sich, seine Eltern hätten „mir hier und da nachdrücklichere Grenzen aufgezeigt, denn manches Versäumnis aus der Kindheit und Jugend läßt sich später kaum korrigieren“. Womit er zweifellos recht hat.
von Dieter Stein Junge Freiheit vom 7. März 2019
Die weitere Entwicklung der AfD, das Vorgehen des Verfassungsschutzes gegen die Partei und die Reaktionen darauf machten das Buch jedoch wieder aktuell. Schließlich spielt das rechte „Flügel“-Netzwerk unter Führung Höckes eine Schlüsselrolle bei der aufziehenden Beobachtung durch den Verfassungsschutz und der Wahrnehmung der AfD als einer sich vermeintlich oder tatsächlich radikalisierenden Partei.
Höcke ist der „rosa Elefant“
Man muß sich nichts vormachen: Höcke ist der „rosa Elefant“, der beim Gespräch über die AfD immer im Raum steht, von dem aber in der AfD oft keiner sprechen will. Besser ihn nicht erwähnen, um ihn nicht noch größer zu machen, lautete eine Weile die Devise. Doch „Höcke“ ist vielleicht auch nur eine Chiffre für dahinterstehende hausgemachte Probleme, um die ein Bogen gemacht werden soll.
Für eine politische Szene, die sich hinter dem Banner „Mut zur Wahrheit“ versammelt hat, ist es bemerkenswert, wenn eine wachsende Zahl von Menschen sich nicht mehr zu Fehlentwicklungen in „den eigenen Reihen“ äußert. Es fällt auf, daß in den sozialen Netzwerken, in den Kommentarforen auch unserer Zeitung, in den Parteiversammlungen zunehmend die Lauten dominieren – die Nachdenklichen, Besonnenen jedoch verstummen und sich zurückziehen.
Die Diskussion frischer Zugluft aussetzen.
Man kann das Wirken einer „Schweigespirale“ in der eigenen Echokammer beobachten: Politisch Gleichgesinnte schotten sich unter Außendruck und eines wahrlich totalitäre Züge tragenden „Kampfes gegen rechts“ ab, bestätigen sich in ihrer Aufrichtigkeit und überhören dann immer öfter radikalere Mißtöne, die sie früher nicht akzeptiert hätten.
Es ist nicht die Aufgabe unserer Zeitung, Dinge schönzureden – weder bei der Regierung noch der Opposition. Und wir müssen die Fenster der Echokammern öffnen und die Diskussionen frischer Zugluft aussetzen. Björn Höcke habe ich übrigens – audiatur et altera pars – herzlich zu einem streitbaren Interview für die JF eingeladen.
Von Götz Kubitschek Sezession vom 28. Febrar 2019
Zunächst eine Anekdote, die Schilderung einer Beobachtung, die ich machte, als ich mit Höcke einen Tag wanderte und abends in einem Gasthof einkehrte.
Wir waren im Südharz unterwegs bei bestem Wanderwetter, und es kamen uns eine Menge Leute entgegen, Familien mit Kindern, Wandergruppen, ältere Ehepaare – der gute Durchschnitt, der sich nicht in Museen mit moderner Kunst herumtreibt oder mit Sonnenbrille über dem Haaransatz auf der Sonnenterrasse eines In-Cafés abhängt und ein bißchen am Laptop arbeitet.
Um es kurz zu machen: Wir waren dort, wo der Norden Thüringens in den Südwesten Sachsen-Anhalts übergeht, und jeder erkannte Höcke. Wirklich jeder. Jeder erkannte ihn, jeder vierte hatte ihn auf einer der über 300 Thüringer Bürgerdialoge schon einmal persönlich erlebt, jeder dritte wollte ein Autogramm, jeder zweite ein Selfie.
Einen Satz habe ich mir gemerkt, ein Familienvater sagte zu Höcke, während er und seine Frau ihn einrahmten und der Sohn das Bild knipste: “Ich hoffe mal, Herr Höcke, Sie holen noch was für uns raus! Sonst geht alles den Bach runter.”
So etwas nennt man Popularität, und Höcke ist ein Populist in dem Sinn, wie es Alexander Gauland in seinem Artikel über den Populismus in der jüngsten Sezession beschrieben hat.
Populismus kann einem unheimlich sein, wenn man nicht anders kann als daran zu denken, daß Leute, die auf einen Politiker setzen, weil sie große Sorgen haben, “verführbar” sind. Sind sie, keine Frage, aber diese Verführung ist nur dann eine, wenn jemand die Macht, die er in die Hand bekommt, mißbraucht.
Macht kann man aber schlicht auch dafür einsetzen, etwas für diejenigen “rauszuholen”, die sich nicht so flott übers Lebensparkett bewegen können wie die grüne Community in Berlin, München, Freiburg, Hamburg und Tübingen oder die flexiblen, smarten, immer leicht zynischen Cuckservatives in Tübingen, Hamburg, Freiburg, München und Berlin.
Das ist, simpel ausgedrückt, das Programm “America first” von Trump: denjenigen Alltags-, Berufs-, Lebens- und Bildungssicherheit zurückzugeben, die nichts anderes können (und vor allem wollen), als dort zu leben und zu arbeiten und vor allem zu Hause zu sein, wo sie sind.
Diese Leute sind im Schnitt weder so geschmeidig und gebildet, noch so vorzeigbar und fassadig wie die Gewinner unserer Gesellschaftsentwicklung, aber sie sind sehr zahlreich und “der Liebe wert”, wie Georg Trakl das ausdrücken würde. In Frankreich trägt ein Teil von ihnen gelbe Westen, in Rußland stecken sie den Veteranen Blumen an den Kragen und zwischen die Orden, in Deutschland stellen sie die komplette Freiwillige Feuerwehr.
Sie können mit fast allem Bierflaschen öffnen, waren noch nie vegan und noch nie bei den Donaueschinger Musiktagen. Sie können ruppig sein, aber sie sind keine Nazis, und wer das trotzdem behauptet, ist ein Depp oder ein politischer Lückenpresser. Sie haben keinen Plan B und können sich nicht mal eben flott verpissen, wenn die Konsequenzen verfehlter Politik anrollen wie eine Tsunamiwelle. Sie wohnen dort, wo diejenigen ankommen, die von denen ins Land gejubelt werden, die woanders wohnen.
Die Masse, die kleinen Leute, die AfD-Wähler: Sie wollen ihre Ruhe und ihre Arbeit und ihren Ausdruck – keine reglementierte, keine wechselnde, keinen vorgeschriebenen.
Warum ich so weit aushole?
Weil mein alter Freund und Weggefährte Dieter Stein in seiner Zeitung gegen Björn Höcke einen Text abgefeuert hat, der unter aller Kanone ist.
Es geht darin um Höckes Buch Nie zweimal in denselben Fluß, das der JF-Stammautor Sebastian Hennig zusammen mit Höcke erarbeitet und zu dem der Tumult-Herausgeber Frank Böckelmann ein schönes und überraschendes Vorwort beigesteuert hat. Erschienen ist dieser sehr interessante Gesprächsband bei Manuscriptum (Klammer auf: Ich empfahl Höcke vor zwei Jahren, nicht in meinem Verlag zu publizieren, sondern das Feuilleton zu überraschen, Klammer zu).
Was macht Sebastian Hennig nun? Ist Böckelmann ein Tölpel? Ging es dem Verleger nur um die Kohle? Ist dieses Buch der Keil, der die AfD spalten oder in die Marginalisierung treiben wird?
Klingt schwer danach, der Stein. Er liest dieses Buch so, wie ein antifaschistischer Stellen-Markierer es nicht besser lesen könnte. Das ist ein starkes Stück! Er lastet Höcke den Unfrieden in der AfD an. Wie oft denn noch? Er macht sich über ihn lustig. Das ist schäbig.
Was bezweckt er damit? Ist ihm Höcke nicht fein genug? Ist ihm sein manchmal “dissonantes Pathos” (Kubitschek) peinlich? Ist es ihm peinlich, daß er sich auf dem Weg in die Bundespressekonferenz rechtfertigen muß, weil er mit Höcke in einen Topf gerührt wird? Sind ihm die kleinen Leute peinlich, die Grobiane, die Biertrinker, die Pegidagänger, die lauten Menschen, die Menschen ohne Bücherschrank? Ist Berlin, ist die “Nähe zur Macht” so anders?
Stein (und damit: seine Zeitung) setzte auf Lucke – und verlor, weil Lucke unfähig war, das grundsätzlich alternative Bedürfnis seiner Parteibasis zu erkennen; Stein setzte auf Petry und Pretzell – und verlor, weil er unfähig war, das gesunde Mißtrauen der AfD-Basis gegen Allüren richtig einzuschätzen.
Und nun? Auf wen setzt er jetzt? Wem will er voranhelfen, indem er Höcke zu demontieren versucht? Gibt es da einen Namen, wird da einer in Stellung gebracht gegen jemanden, der bewußt nicht in den Bundestag ging, sondern nun in Thüringen etwas “rausholen” will und wird?
Kennt Stein den Begriff “Glashaus”? Er klaubt Steine zusammen:
Höcke nimmt in Kauf, in Ton und Wortwahl abgründige und abstoßende Assoziationen zu wecken – weil er sich absichtlich unklar ausdrückt. So formuliert er, daß mit der bald ins Haus stehenden „Wendephase … harte Zeiten“ bevorstünden, denn: „Um so länger ein Patient die drängende Operation verweigert, desto härter werden zwangsläufig die erforderlichen Schnitte werden, wenn sonst nichts mehr hilft.“
Die politische Führung habe dann „schwere moralische Spannungen auszuhalten“: „Sie ist den Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet und muß aller Voraussicht nach Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigenen moralischen Empfinden zuwiderlaufen.“ Bei einem notwendigen „großangelegten Remigrationsprojekt“ ließen sich „menschliche Härten und unschöne Szenen nicht vermeiden, für die „wohltemperierte Grausamkeit“ notwendig sei, ein Begriff den Höcke sicherheitshalber bei Peter Sloterdijk ausgeliehen hat.
Na, immerhin Sloterdijk, und auch das hat Stein nicht selbst aufgegabelt, sondern bei Jasper v. Altenbockum abgepinselt, dessen Beitrag “Höckes Spiel mit der Grausamkeit” vor vier Tagen erschien. Will da vielleicht jemand zeigen, daß die Blattlinien aus Frankfurt und vom Hohenzollerndamm keine Parallelen sind, die sich erst in der Unendlichkeit kreuzen, sondern Linien, die bei Erfurt ein Fadenkreuz bilden?
Stein: Er hätte seine Steine auch in Richtung Karlheinz Weißmann werfen können, der soeben sechzig Jahre alt geworden ist und den Ruf genießt, ein an Schmitt geschulter Dezisionist zu sein, also (um es auf der Ebene der Freiwilligen Feuerwehr auszudrücken) einer, der nicht viel quatscht wo entschieden und gehandelt werden muß.
Das Machen-Müssen, Durchgreifen-Müssen, die Schnauze Hinhalten-Müssen hat Weißmann stets in einer Mischung aus Fasziniertheit, Einsicht in die Notwendigkeit und einer Ahnung von geschaufeltem Dreck betrachtet – etwa in einem leider nicht mehr online verfügbaren Gespräch, das der JF-Vordenker mit Petrys “Blauem Kanal” führte und in dem er unter anderem erklärte, man müsse alle nicht-integrierbaren wieder außer Landes schaffen.
Gehen die dann alle brav mit dem Köfferchen in der Hand, freiwillig – oder vielleicht erst dann, wenn ihnen diejenigen mit den dünnen Armen, linken Daumen und Kantinebäuchlein streng eine Bordkarte in die Hand gedrückt haben? Oder wie sieht so etwas aus, frag’ ich Weißmann und Stein, letzteren vor allem. Man wird da “menschliche Härten und unschöne Szenen nicht vermeiden können”, sollte Weißmann je ein Repatriierungsprogramm ausarbeiten dürfen, das ist meine Prognose. Rechte Politik ist doch eben nicht die Privatisierung der Besserwisserei und die Sozialisierung der Konsequenzen, oder?
Und selbst dann, wenn Stein Höcke einfach nicht versteht und sein Buch richtig daneben findet: Warum zerrt man so etwas ans Licht der Öffentlichkeit? Warum jetzt? Wegen Jasper von Altenbockum? Ist die Not so groß, ist es ein inkontinenter Drang zur Reinheit in der Politik? Haben wir nicht alle gelernt, daß immer mehr Säue immer rascher durchs Dorf getrieben werden?
Wovor hat Stein Angst, das will ich mal wissen! Vor dem Populismus? Vor einer Alternative, die diesen Namen verdient? Oder ist es eher so, daß er sich schämt, wenn er an Bier und Mett und diejenigen Wähler denkt, die so etwas verzehren? Will er Applaus von denen, die noch immer meinen, daß zwischen sein Blatt und (beispielsweise) unseres kein Blatt Papier passe?
Ich bin überfragt, aber so einen Text schreibt Stein nicht aus Langeweile. Vielleicht sollte es ihm wurscht sein, was die zivilgesellschaftlich angekränkelte Filterblase in Berlin denkt. Vielleicht sollte er mal Urlaub in Sachsen machen, oder dort, wo Thüringen und Sachsen-Anhalt einander berühren.
Vor allem sollte er bei seinen Leisten bleiben und es halten wie ich (und dies umso mehr, als er kein glückliches Händchen hat, wenn er auf Pferdchen setzt): keine Parteitage besuchen, diesen Laden machen lassen und allenfalls antworten, wenn man gefragt wird. “Interventionsverbot parteifremder Mächte” (Vorsicht Schmitt!).
So, kurzum, drei Thesen, über die ich eine Diskussion wünsche (und nicht den Auftritt von Claqueuren):
- Es gibt keinen Zustand der AfD, der für das Establishment akzeptabel wäre.
- Der Feind steht immer außerhalb des eigenen weltanschaulichen Lagers.
- Der Bedarf an Nazis ist ungebrochen, selbst unter uns.
Zuletzt aber eine Empfehlung: Höcke lesen! Ohne die Brille Steins.
von Baal Müller TUMULT
Soeben hatte der Verfassungsschutz vor dem Landgericht Köln eine krachende Niederlage gegen die AfD erlitten, die nun nicht mehr von ihm als „Prüffall“ bezeichnet werden darf, da platzte Dieter Steins Attacke gegen Björn Höcke in die Medienlandschaft hinein. Freund und Feind rieben sich die Augen. „Musste das jetzt sein? So kurz vor der Europawahl?“ fragten sich viele AfD-Sympathisanten, selbst wenn sie nicht unbedingt zu den Freunden des Thüringer AfD-Vorsitzenden gehörten. Umso genüsslicher kommentierte man im linken Lager den Verriss von Höckes Buch Nie zweimal in denselben Fluss durch den Chefredakteur der Jungen Freiheit: „Familienstreit um den Kurs der AfD“ titelte die taz und ergänzte: „Der Konflikt um den Kurs der AfD spaltet jetzt rechte Medienunternehmer.“ Ganz ähnlich schrieb die junge Welt über die „rechten Flügelkämpfe“ und bezeichnete Steins Blatt, wie üblich, als „rechte Wochenzeitung“. Sogar die einstmals konservative FAZ schrieb im gleichen Jargon von einem „rechten Bruderkrieg“.
Zum gefühlt neuntausendsiebenhundertachtundsiebzigsten Mal zeigte sich, dass kein Vertreter des Establishments Stein für seine polemischen – und nicht nur in diesem Fall unsachlichen und unangemessenen – Abgrenzungen von Personen, die er für zu rechts befindet, auf die Schultern klopft. „Wenn Dieter Stein tatsächlich glauben sollte, dass seine Denunziation Höckes in der JF ihn endlich im etablierten Politik- und Medienbetrieb gesellschaftsfähig machen könnte, dann jagt er einer Illusion nach: Einmal ‚Nazi‘, immer ‚Nazi‘“, bemerkt Robert Anders auf PI-News zu Recht.
Auch sonst herrschen unter jenen, die Steins Verbündete sein könnten, wenn er sie nicht immer wieder vor den Kopf stieße, Verärgerung und Unverständnis über seinen Schmäh-Artikel vor, der laut Götz Kubitschek „unter aller Kanone ist“. Der Herausgeber der Sezession wirft seinem einstigen Weggefährten vor, Höckes Buch so zu lesen, „wie ein antifaschistischer Stellen-Markierer es nicht besser lesen könnte. Das ist ein starkes Stück! Er lastet Höcke den Unfrieden in der AfD an. Wie oft denn noch? Er macht sich über ihn lustig. Das ist schäbig.“
Im Compact-Magazin bemüht sich Jürgen Elsässer nach dem „Frontalangriff der Jungen Freiheit“ um Schadensbegrenzung und fordert die AfD zur Einheit auf. Elsässer weist darauf hin, dass Höcke „seit Herbst letzten Jahres seine Sprache stark gemäßigt und sich der Parteimitte angepasst“ hat – während Stein selbst offenbar an einer neuerlichen Eskalation der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Gegensätze innerhalb der Partei gelegen ist.
Selbst im JF-Forum schüttelte die weit überwiegende Mehrheit der Kommentatoren verständnislos den Kopf, und nicht wenige Abo-Kündigungen dürften der Jungen Freiheit in den letzten Wochen ins Haus geflattert sein.
Zuspruch erhielt Stein lediglich in der transatlantischen und dezidiert wirtschaftsliberalen, ursprünglich den amerikanischen Neocons nahestehenden Achse des Guten, deren Autor Steins Auslassungen in einem Beitrag mit dem albernen Titel „Björn allein im Führerbunker“ wiederkäut und als „kristallklare Analytik des Höckeschen Rechtsradikalismus“ belobhudelt, sowie in dem katholischen Blog Philosophia Perennis, in dem man die Philosophie allerdings zwischen lauter tagespolitischen und meist marktschreierisch formulierten Artikeln mit der Lupe suchen muss.
Auch dort kritisierte Ed Pieper Steins Attacke aber zunächst als Angriff auf die gesamte AfD und warf der JF vor, sich „zum publizistischen Handlanger parteiinterner Machtspielchen“ zu machen, „in deren Rahmen der tatsächliche Erfolg oder Nicht-Erfolg der AfD letztendlich völlig egal ist“. Einige Tage später durfte Felicitas Küble, die Leiterin des Komm-mit-Verlags, Höcke dann eine „skurrile Germanentümelei“ nachsagen und versuchen, dieser mit skurriler Bibeltümelei zu begegnen. Die „Kritikpunkte“ ihres kümmerlichen Beitrags, der zunächst im Christlichen Forum erschienen war, lauteten, dass Höcke „die Heilige Schrift nicht viel bedeute“ und dass er die „weiträumige Klarheit der Wüste“ womöglich „durch das Halbdunkel des ‚germanischen‘ Waldes ersetzen“ oder gar „eine mythische Naturreligion wieder einführen“ wollte. „Odan lässt grüßen“, meint Küble dazu feststellen zu müssen. Vermutlich meint sie damit den germanischen Gott Wodan, von dem in Höckes Buch allerdings nicht die Rede ist.
Offenbar wirkt Höcke auf die Phantasie einer eher durch ideologische Beschränktheit, die man in ihren Kreisen wohl für Glaubensstärke hält, als durch Bildung glänzenden Autorin ziemlich anregend. Schließlich wird er ja gerne als der „Gottseibeiuns“ des politisch-korrekten Betriebs dargestellt.
Dieter Steins Beitrag ist sicher auch als Versuch eines Exorzismus des leibhaftigen Höcke aus der AfD gedacht, obwohl sich die Partei wiederholt gegenüber den Litaneien vom Hohenzollerndamm „verstockt“ gezeigt hat. Der verkannte Gesundbeter glaubt nun, in heiligem Zorn die Geißel schwingen zu müssen. Aber es gelingt ihm doch nur ein dröger und schiefer Verriss, der sich von einer Zitatklitterung zur nächsten hangelt, um am Ende das von vornherein feststehende Urteil scheinbar zu bestätigen. Er verdeutlicht dabei jedoch vor allem, dass er genau das tut, was er Höcke vorwirft: Dinge anzudeuten und mit düsteren Assoziationen zu spielen.
Zunächst fällt auf, dass es Stein vor allem um Höckes Person, sein Auftreten und seine Rhetorik und erst in zweiter Linie um seine politischen Positionen geht. Würde er letztere klar benennen, könnten sich womöglich noch mehr JF-Abonnenten an den Kopf greifen und sich verwundert fragen, ob sie wirklich die richtige Zeitung abonniert haben, wenn jene so schlimm sein sollten. Bezeichnenderweise unterlässt es Stein aus diesem Grund sogar, den Titel von Höckes Buch vollständig zu zitieren. In einem Kästchen unterhalb des Textes steht verkürzt „Nie zweimal in denselben Fluss. Björn Höcke im Gespräch“, und außer Höcke wird als Autor ein „Hennig“ angegeben.
In der Rezension erfährt man weiterhin, dass es sich um ein langes Interview handelt, „das ein Journalist mit Björn Höcke geführt hat.“ Wer ist denn aber dieser Journalist? Der langjährige Autor der Jungen Freiheit Sebastian Hennig – der Untertitel des Buches lautet daher auch vollständig: Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig. Der JF-Chefredakteur verschweigt also den vollständigen Namen seines eigenen Mitarbeiters, damit dessen mutmaßliche Nähe zu Höcke nicht weiter publik wird. Er muss also einiges gegen den Politiker und vor allem gegen den Menschen haben, dessen Buch er so wütend verreißt.
Was stört ihn nun so sehr an Höcke? Allgemein hält er „seine teils schrägen Auftritte und großspurigen Reden“ für „irritierend“. „Seine Anhänger huldigen ihm hingegen wie einem Erlöser.“
Höcke ist in Thüringen beliebt, keine Frage, und die Zeiten sind politisch aufgewühlt; da skandieren viele Menschen auf Demos „Höcke, Höcke“. Ansonsten scheint sich ihre Sympathie für ihn aber doch in einem vernunftgeleiteten Rahmen zu bewegen, wie aus dem Bericht Götz Kubitscheks über eine gemeinsame Wanderung mit Höcke hervorgeht:
„Wir waren dort, wo der Norden Thüringens in den Südwesten Sachsen-Anhalts übergeht, und jeder erkannte Höcke. Wirklich jeder. Jeder erkannte ihn, jeder vierte hatte ihn auf einer der über 300 Thüringer Bürgerdialoge schon einmal persönlich erlebt, jeder dritte wollte ein Autogramm, jeder zweite ein Selfie. Einen Satz habe ich mir gemerkt, ein Familienvater sagte zu Höcke, während er und seine Frau ihn einrahmten und der Sohn das Bild knipste: ‚Ich hoffe mal, Herr Höcke, Sie holen noch was für uns raus! Sonst geht alles den Bach runter.‘“
Nicht wenige Menschen in Thüringen erhoffen also eine politische Wende von Höcke, projizieren aber deshalb noch keine Erlöserfantasien auf ihn. Und selbst wenn Höcke wie der Messias über das Wasser wandeln würde, bekäme er von Dieter Stein dafür doch nicht mehr Lob als dieser in taz und FAZ für seine neuntausendsiebenhundertneunundsiebzigste Distanzierung „von Rechts“ erhält. „Der kann eben nicht richtig schwimmen“, würde Stein dazu sagen. Im Stillen würde er vielleicht hinzufügen: „Er soll gefälligst ins Wasser fallen wie ich auch.“ Oder, wenn man den Gedanken noch weiter ergänzen möchte: „So wie ich auch immer mit meinen politischen Ratschlägen an die AfD baden gehe.“
Ganz sicher würde er Höcke aber mangelnde Bescheidenheit attestieren: „Seine ‚konservative Bescheidenheit‘ will Höcke vom Meisterdenker vom Todtnauberg gelernt haben. Weder die von Höcke gepflegten Begriffe ‚Bescheidenheit‘ noch ‚Demut‘ hindern ihn aber daran, in den Fußstapfen der größten Dichter, Denker und Weltenlenker zu wandeln – nie scheinen ihm diese Schuhe zu groß zu sein. Ob Friedrich II. von Hohenstaufen, ‚der Flötenspieler von Sanssouci‘, Bismarck oder Adenauer – kürzer darf die Elle nicht sein, an der sich Höcke messen lassen will, um sich von ‚mediokren Schweinchen-Schlau-Figuren der heutigen Parteiendemokratie‘ abzusetzen. Sein innigster Wunsch: ‚Macht und Geist müssen einst wieder konvergieren.“
Behauptet Höcke tatsächlich, „in den Fußstapfen der größten Dichter, Denker und Weltenlenker zu wandeln“? Was sagt er z.B. über Heidegger, den „Meisterdenker vom Todtnauberg“:
„Heute kommt mir das etwas abenteuerlich vor, aber ich hatte mir in den Kopf gesetzt, Sein und Zeit zu lesen – ohne jede Sekundärliteratur und ohne jede Anleitung durch einen Lehrer. Ich glaube, das schwierige Unterfangen hat sich gelohnt, auch wenn es mir schwerfällt, konkrete Früchte vorzuweisen.“ (S. 77)
Nun gut, Höcke hatte sich also vorgenommen, Heidegger zu lesen, und zählt sodann einiges auf, was ihn an diesem faszinierte – sein philosophisches Fragen nach dem Sein, das Ringen mit den Grenzen der Sprache, sein „Antimaterialismus“ –, aber dass er ihm nacheifern wollte, geht daraus nicht hervor. Vielleicht hält Stein es schon für arrogant, überheblich oder nutzlos, sich überhaupt mit Heidegger zu beschäftigen. Aber dann müsste er sich auch von Günter Zehm oder anderen bei seiner Zeitung noch verbliebenen Autoren mit philosophischem Hintergrund trennen. Ausdrücklich verneint Höcke auch, „mit Heidegger Politik betreiben“ zu wollen; stattdessen seien wir in der Sphäre der Politik „mit den klassischen Staatsdenkern und den staatsmännischen Praktikern wie Bismarck oder Adenauer besser versorgt“ (S. 79).
Stellt er sich also in deren Reihe? Was sagt Höcke über Bismarck? Schwärmt er davon, wie der große Reichskanzler das Deutsche Reich durch Blut und Eisen schuf? Nein, er hebt im Gegenteil die Weichherzigkeit des Kanzlers hervor, der „bei Betrachtung seines Vaterlandes regelmäßig von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt“ wurde (S. 124), lobt dessen schlichte Bodenständigkeit am Beispiel der „kratzigen, aber wärmenden preußischen Jacke, von der Bismarck sprach“ (S. 142), und betont die Notwendigkeit von politischer Flexibilität, denn „Bismarck sagte einmal, er fühle sich manchmal wie jemand, der mit einem großen Holzstock quer im Mund durch einen eng bewachsenen Wald laufen müsse“ (S. 149). Außerdem erinnert er an dessen Zurückweisung einer konservativen Klientelpolitik mit dem Hinweis, „er sei jetzt Staatsmann und müsse für das ganze Volk denken und handeln“ (S. 151), und schließlich habe er in der Nachfolge von Scharnhorst und Gneisenau „die Stoßrichtung einer Rebellion“ der Politik„ als gestaltendes Element “ einverleibt (S. 213).
Und wie steht es mit Adenauer? Vergleicht sich Höcke wenigstens mit dem ersten Kanzler der Bundesrepublik, wie Stein andeutet? Auch davon kann keine Rede sein. Er nimmt ihn gegen die „berühmte Verunglimpfung“ Schumachers als „Kanzler der Alliierten“ in Schutz (S. 37), da er als pragmatisch denkender Staatsmann das damals Mögliche für Deutschland und die deutsche Einheit getan habe, und nennt ihn neben Carlo Schmid, Kurt Schumacher und Thomas Dehler als Beispiel für eine politische Elite in neuerer Zeit (S. 154). Man braucht als Kontrast nur Namen wie Angela Merkel, Andrea Nahles, Frank-Walter Steinmeier oder Christian Lindner aufzuzählen, um dem Gedanken zuzuneigen, dass an den Ideen von Elitenverfall und Negativselektion in der Parteiendemokratie doch etwas dran sein könnte, ohne dass man deshalb die Demokratie insgesamt in Bausch und Bogen verdammen und nach einem neuen Führer rufen muss.
Wenn Höcke von „Elite“ spricht, meint er also weder sich selbst noch eine erst zu schaffende mystische Geistesaristokratie, sondern eine mit normalmenschlichen Ellen zu messende „fordernde und fördernde politische Elite, die unsere Volksgeister wieder weckt“, und sich durch „eine allgemeine Haltung“ auszeichnet, „die die Einheit in der Vielfalt bejaht, denn nur mit starken Einzelpersönlichkeiten, die sich dem Ganzen verbunden fühlen, werden wir ein so großes Projekt wie den Neubau unseres Gemeinwesens stemmen“ (S. 286). Derzeit gibt es eine solche Elite jedoch „nur in ganz bescheidenen Ansätzen“; wir sind also „gezwungen zu improvisieren“ (S. 286) und müssen langfristig denken, wobei uns Preußen durch „seine bekannten Werte und Tugenden“ und vor allem durch „seine institutionellen Vorbilder wie beispielsweise den Staatsapparat, die Armee und das Bildungswesen“ als Vorbild dienen kann (S. 289).
Noch „konvergieren“ Macht und Geist – auch in der AfD – aber keineswegs: „Das zu bejahen, wäre vermessen. Man sollte da selbstkritisch sein. Wir alle sind – und ich will mich davon gar nicht ausnehmen – mehr oder weniger von dem gesamtgesellschaftlichen Niveauverlust von Geist und Bildung betroffen.“ (S. 81) Stein konstruiert trotzdem seinen Vorwurf der Überheblichkeit und des Bildungsdünkels.
Gelegentlich greift Höcke auch weit in die Vergangenheit zurück und bezieht sich auf mythische Bilder wie das vom schlafenden Kaiser im Berg, der einst erwachen wird, um „das Reich zu retten und seine Herrlichkeit wiederherzustellen“ (S. 159), aber auch dann ruft er sich nicht selbst zum neuen Kaiser aus, wie Stein ihn anscheinend missverstehen will, sondern beschreibt „die belebende und identitätsstiftende Wirkung“ des Mythos „auf Menschen und Völker“ (ebd.). Echte Mythen seien gerade keine Propaganda wie die künstlichen Mythen der Politik, sondern sie ermöglichten „immer verschiedene Lesarten“, weil die Geschichten und Charaktere nie ganz aufgingen – „Gut und Böse, Hell und Dunkel sind nicht eindeutig zugeordnet.“ (S. 160)
Vielleicht irritiert dies schlichtere Gemüter, die immer klare Ansagen und Gebote benötigen und monieren, dass Höcke die Gretchenfrage, wie er es mit der Religion halte, nicht im Sinne ihrer konservativen Korrektheit beantwortet –, aber „ein Mythos kann nur ‚schwingen‘“, wie Höcke sagt, „wenn entsprechende Saiten beim Menschen vorhanden sind.“ (ebd.) Und dies ist natürlich nicht bei jedem gleichermaßen der Fall, zumal in einer mythenarmen Zeit in einem – bis auf rein negative Gründungsmythen – alle Mythen austreibenden Land, in dem, trotz allen Geredes von „Werten“, letztlich nur instrumentelle und funktionale Zwecke gelten.
Um nachhaltige Erfolge zu schaffen, bedarf aber es aber selbst „in so profanen Bereichen wie der Ökonomie“ über das Materielle hinausgehender Kraftquellen wie der „seltsamen Romantik“ der Deutschen, die als so „gedankenvolles“ und „tatenarmes“ Volk doch eine überaus erfolgreiche Wirtschaftsordnung geschaffen haben, „bevor wir uns der angelsächsischen Doktrin mit ihrer Gewinnmaximierungs- und Rentabilitätsideologie unterwarfen“ (S. 157).
Dieter Stein, der bekanntlich auf die AfD von Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel gesetzt hat, sind solche Erkenntnisse anscheinend nicht zugänglich, wenn er es sogar „auffällig übertrieben kitschig“ findet, dass Höcke neben dem Kamin einen Kunstdruck von Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ hängen hat. Was würde sich Dieter Stein wohl neben den Kamin hängen? Jeder, der schon mal einige JF-Ausgaben durchgeblättert hat, wird dieselbe Antwort geben: Stauffenberg vermutlich. Bei allem Respekt für den Hitler-Attentäter, den auch Höcke teilt, könnte es aber doch sein, dass der eine oder andere JF-Leser gelegentlich den Eindruck gehabt hat, auch der Kult um Stauffenberg sei zuweilen ins „auffällig übertrieben Kitschige“ abgeglitten.
Anstatt aber Geschmacksfragen weiter auszuwalzen, auch wenn sie für Stein so maßgeblich sind, soll sein ungeordneter Text, soweit möglich, im Hinblick auf politische Positionen Höckes durchkämmt werden, die Stein missfallen.
Man kann seine diesbezüglichen Andeutungen in drei mageren Punkten zusammenfassen:
Erstens wirft er Höcke eine zu große Ambivalenz seiner Aussagen vor und versucht, diese dann stets auf die ungünstigste Interpretation hin zuzuspitzen. Höcke spiele erst mit schlimmen Assoziationen und behaupte hinterher, falsch verstanden worden zu sein, wodurch er dieselbe Aussage an die Gemeinde seiner „Jünger“ wie an den medialen Mainstream adressieren könne.
Zweitens habe Höcke generell keine klaren Konzepte und könnte nicht sagen, „was er konkret im Rahmen seines umfassenden gesellschaftlichen Umbaus ändern wolle“. Man könnte hier einwenden, dass er kürzlich ein eigenes Rentenkonzept vorgelegt habe, aber sein Interviewband ist in der Tat keine Programmschrift; Stein wirft der Kuh hier also vor, dass sie keine Eier legen kann.
Der zweite Kritikpunkt steht in einem deutlichen Widerspruch zum ersten, denn obgleich beide eine mangelnde Bestimmtheit von Höckes Zielen monieren, unterstellt der erste, dass der listige Politiker allerlei Übles im Schilde führe, dies jedoch aus taktischen Gründen nicht ausspreche, während er laut dem zweitem Vorwurf in Wahrheit gar nichts vertrete.
Und drittens bemängelt Stein, gleichsam als Resümee, dass Höcke kein ordentlicher christlicher Konservativer sei.
Betrachten wir den Ambivalenz-Vorwurf: Hier wird natürlich sofort Höckes berühmt-berüchtigte Dresdner Rede von Januar 2017 genannt, in der er „eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ verlangte. Er hat später selbst eingeräumt, dass diese Formulierung missverständlich war, doch bedurfte es schon einer gehörigen Böswilligkeit, aus ihr abzuleiten, dass er eine positive Bewertung des Dritten Reiches wünsche.
Zu Sebastian Hennig sagt er diesbezüglich:
„Mir wurde das von meinen Gegnern so ausgelegt, als würde ich an Stelle der offiziellen Verdammung des Dritten Reiches nun seine Verherrlichung fordern. Das ist natürlich falsch. Selbstverständlich dürfen wir unsere Augen nicht vor den Fehlern und Verbrechen der NS-Zeit verschließen. Aber kein Mensch und kein Volk kann sein Selbstbewusstsein nur auf negativen Bezügen aufbauen. Die Lichtseiten der Geschichte bilden den Kern der Identität, ohne die ebenso vorhandenen Schattenseiten zu leugnen. […] Ich habe lediglich dafür plädiert, den Ansatz unserer Selbstbegegnung als Volk und Nation zu überprüfen. Anstatt uns allein von den belastenden, auf Dauer krankmachenden Zügen beherrschen zu lassen, sollten wir uns den heilsamen Aspekten unserer Geschichte mindestens ebenso verpflichtet fühlen – vor allem aber nicht diese ständig durch jene diskreditieren. Das hat vor allem mit Selbstachtung zu tun, ohne die man keinen Respekt von dritter Seite erwarten kann.“ (S. 66f.)
Diese Äußerungen haben natürlich nur dann Sinn, wenn man überhaupt an einer „Heilung“ der deutschen Identität, einer wirklichen „Aufarbeitung“ der Vergangenheit – also einer Überwindung von deren Traumata – interessiert ist, was von der überwiegenden Mehrheit derjenigen, die Höckes Rede absichtlich missverstanden haben, nicht gesagt werden kann. Ihnen geht es vielmehr um die „Dauerpräsentation der Schande“, von der Martin Walser zeitweilig zu sprechen wagte – denn einem Volk, das im Zustande der Zerknirschung und des Selbsthasses erstarrt ist, lässt sich leichter eine gegen seine existenziellen Interessen gerichtete Politik aufzwingen. In der Ära Merkel ist diese Aussage wohl nicht mehr erklärungsbedürftig.
Vor diesem Hintergrund einer gewünschten Neuausrichtung der deutschen Geschichtspolitik ist auch Höckes verunglückte Äußerung vom „Denkmal der Schande“ zu verstehen. Er hat hier eine Formulierung des Intendanten des Berliner Humboldt-Forums, Neil McGregor, übernommen und erläutert dazu in seinem Buch: „Damit sollten das furchtbare Leid und die vielen Opfer der Juden während der NS-Zeit nicht in Frage gestellt oder verharmlost werden, sondern nur unsere Art des Umgangs mit diesem factum brutum.“ (S. 68) Indem er jedoch nicht präziser vom „Denkmal der deutschen Schande“ sprach, „riskierte Höcke die Fehldeutung, er habe das Mahnmal selbst ein Schandmal genannt“, wie Frank Böckelmann in seinem Vorwort anmerkt (S. 15). „Seine Richtigstellung folgte auf dem Fuß. Sie wurde in den Medien wiedergegeben und als solche nie angezweifelt. Vielmehr wurde und wird sie meist einfach ignoriert.“ (ebd.) Anderenfalls ließe sich die Dauerskandalisierung, die um Björn Höcke inszeniert wird, ja auch nicht aufrechterhalten.
Dieter Stein zitiert noch weitere Formulierungen Höckes und kommt zu dem Schluss: „Höcke nimmt in Kauf, in Ton und Wortwahl abgründige und abstoßende Assoziationen zu wecken – weil er sich absichtlich unklar ausdrückt.“ Einen Satz zuvor gab er Höcke mit dem Satz wieder: „Etwaigen Rachegefühlen darf man dann keinen Raum geben“, und „das christliche Vergebens- und Gnadengebot“ werde „vielleicht einmal viel von uns abverlangen“. Laut Stein hat Höcke mit diesen Worten also gemeint, dass man seiner Rache freien Lauf und keine Gnade walten lassen sollte.
Dieter Stein sollte diese Art von „Hermeneutik“ eigentlich kennen – es ist dieselbe, die der Verfassungsschutz bis 2005 auf die Junge Freiheit angewandt hat: Das Vor-Urteil – im doppelten Wortsinne – steht bereits fest, und man sucht nur noch nach „Belegen“. Findet man Stellen, die die gewünschte Interpretation zu bestätigen scheinen, erklärt man sie auch dann für entscheidend, wenn 95 Prozent des Textes andere Deutungen nahelegen; und findet man sie nicht, konstruiert man einen verborgenen Hintersinn, den nur die Lektüre eines „Experten“ zwischen den Zeilen erschließen könne, oder unterstellt pauschal Lüge.
Steins zweiter Vorwurf behauptet nun genau das Gegenteil: „Im Grunde weiß Höcke gar nicht, was er will.“ Dann können wir ja tief durchatmen und beruhigt sein. Er will also doch nicht in die Fußstapfen Bismarcks, Adenauers oder sonstiger Schreckensgestalten der Vergangenheit treten, für die er zur Tarnung nur diese akzeptablen Namen gewählt hat! „Einmal erklärt er das Gewissen zur entscheidenden politischen Urteilsinstanz, dann ist es plötzlich die Suche nach Kompr