Wir präsentieren in dieser Ausgabe 19 Bilder des 1934 im westerzgebirgischen Sudetenland geborenen und seit der frühen Nachkriegszeit in Stuttgart lebenden Malers und Grafikers Moritz Baumgartl (Näheres S. 110). Was diese Bilder zeigen, ist anachronistisch im wörtlichen Sinn. Baumgartl arrangiert Versatzstücke der Kultur- und Kriegsgeschichte in weiten leeren Räumen (doch meist in kleinen Formaten). Künstlerischen Gruppentrends - dem Ruf der Avantgarde - hat er stets widerstanden; als ferne Wahlverwandte nennt er den Landschaftsmaler Ferdinand Kobell, Caspar David Friedrich, Georg Friedrich Kersting (aus dem Dresdner Biedermeier), die niederländischen Stilllebenmaler und René Magritte.
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Baumgartl spekuliert nicht auf die Verblüffung des Publikums, sondern pflegt die eigenen Vorlieben, ein Repertoire von Motiven (»Prototypen«), die er mit manischer Anhänglichkeit ins Bild setzt: Uniformen und Kriegsgerät aus der Napoleonischen Zeit, herumstehende und -sitzende Offiziere und Rekruten aus der Kasernenwelt des späten 19. Jahrhunderts, Wach- und Sicherheitsleute, Fluggeräte, Vorhänge und ausgestellte Kleider, Würdenträger und Gliederpuppen, Schaukästen in Museen, Pferde und Hunde - und immer wieder: Stühle, immer wieder Leitern und Kletterstangen und monumentale Mauern. (Warum Letztere? Weil sie »so viel Ruhe ausstrahlen«.)
All dies mutet altväterlich an. Wir sehen beschauliche Kabinettstückchen, vereinsamtes Anekdotenpersonal, das wie auf Guckkastenbühnen vorgeführt wird. Er habe überhaupt nichts dagegen, als Historienmaler bezeichnet zu werden, sagt Baumgartl (vgl. S. 64). Denn er tue nur etwas, was alle Maler täten, dies aber mit Leidenschaft: Vorgänge stillzustellen, den gesellschaftlichen Umgang in museale Vergangenheit zu verwandeln, die Umwelt in einem Panoptikum »abgeklärter Landschaften« unterzubringen. Seine Gestalten symbolisieren und assoziieren nichts. In ihrer Vertrautheit sind sie uns fremd, in ihrer Fremdheit vertraut. Wenn wir sie geduldig betrachten, gelingt uns »das naive Anschauen der Welt«. Wir bezahlen dafür mit ein wenig Melancholie. Baumgartl taucht Geschichte und Gegenwart in absolute Stille. »Auch alles Zukünftige wird so zum Stillleben werden«, sagt er.
Immer wieder hat man Baumgartls Bilder in die Schublade mit dem Etikett »Surrealismus« gelegt - zum verspäteten, nachgemachten, kunstgewerblichen. Der Künstler selbst gibt dazu Anlass, denn er teilt mit den Surrealisten der 1920er und 1930er Jahre sowohl die brillante Lasurtechnik als auch das Verfahren der Verknüpfung von Elementen aus ganz unterschiedlichen Daseinsbereichen. Doch Baumgartl fertigt keine Collagen, verherrlicht nicht den Zufall und kehrt nicht das Unterste zuoberst. Vielmehr hält er sich strikt an sein Eigenes, Unwillkürliches, an die »subjektive Einfallsfolge« des Gesehenen und Erinnerten. Sein Surrealismus stiftet Zutraulichkeit zwischen abgeschiedenen Dingen und Situationen.
Bewusst oder vorbewusst reagiert diese Kunst auf die fixe Idee, dass wir uns mit vereinten Kräften einem Idealzustand anzunähern hätten. Baumgartl ist praktizierender »Fortschrittsfatalist« (Karl Diemer) und macht die große Welt ganz klein; sein Fortschritt ist das innige Bestreben, den Dingen, die »unvergangen und ohne Zukunft« sind, gerechter zu werden. Wie sein Favorit Adalbert Stifter schildert er »einfach das Vorhandensein der Dinge«. Über seinen Bildern liegt der Zauber des Unangestrengten, das nüchterne Geheimnis der Welt.
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INHALT
Frank Böckelmann
Das Virus der Beliebigkeit.
und: Wie Deutschland sich seine Amokläufer züchtet.
Zur Ausgabe Sommer 2020.
DIE GROSSE KRÄNKUNG
Josef H. Reichholf - Globale Schocklähmung Covid-19 - die neue Pest.
Johannes Eisleben - Der Lockdown - eine vermessene Fehlkalkulation.
Marius R. Winter - Bericht aus Taiwan.
Konrad Adam - Die Rückkehr der Natur.
Michael Blöhm - Corona oder Von der Wiederverzauberung der Welt.
BELICHTUNGEN
Reinhart Maurer - Falsche Signale - falsche Bedürfnisse.
Aus einem kritischen Wörterbuch der Lingua Quarti Imperii (LQI)
Rainer Paris - Vom Schwinden der Familie.
Katharina Magiera - Grenzen
Josef A. Tillmann - Über Grenzen und Aussichten im Unbegrenzten.
DAS GESPENST SEXUALITÄT
Siegfried Gerlich - «Mein Freund Harvey» oder: The Beauties and the Beast.
LANDSCHAFTEN
Moritz Baumgartl - Bemerkungen zu meiner Arbeit und zu Kunst und Künstler heute.
Max Kommerell - Drei leichte und zwei letzte Lieder.
Jonathan Meynrath - Von vorgestern und übermorgen.
K. F. Meinhardt - Traum der Stadt.
Sieben Gedichte
Michael Zeller - Aresklänge.
Tarasaki- 579,3.
ISLAMISIERUNG
Hartmut Krauss - Ein verdrängtes Kardinalproblem.
Die Überbevölkerungsproduktion in vormodern-unaufgeklärten Weltregionen als multidimensionaler Krisengenerator.
Gerhard Gurrath- Dem bösen Ende näher. Teil II.
RÄUME DES POLITISCHEN
Parviz Amoghli- In den Spuren der Marina.
Ernst Jüngers Theorie totalitärer Herrschaft und die Berliner Republik.
Johannes Scharf - Zusammenrücken in den neuen Bundesländern.
LEBENSWELT NETZ
Christian J. Grothaus- Der Kopf und die digitale Welt.
Friedrich Bahnweiler- Wir als Daten.