Michael Esders hat das »Sprachregime« entschlüsselt und den Abgrund einer Gesellschaft »Ohne Bestand« vermessen. Nun erkundet er in »Einhundert Expeditionen ins Eigene« die Wörter- und Dingwelt seiner Kindheit in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Touristen erscheinen als Terroristen, und der Vater »Herrmann« hat ein Denkmal im Teutoburger Wald. Die Kinderzimmertapete ist bewohnt und offenbart sich im Dämmerlicht als geordnetes Gemeinwesen. Ein Drehstuhl wird zur Droge und ein Kaugummiautomat zum Ziel einer Wallfahrt. Ein Dimmerschalter ermöglicht Zeitreisen, und ein altes Röhrenradio stellt den Kontakt zum Jenseits her. In den Telespielen breiten sich primitive Frühformen des Digitalen aus, die bald schon die analoge Wirklichkeit verblassen lassen. Die sprachlich verdichteten Erinnerungs- und Denkbilder dieses Buchs finden sich damit nicht ab. Sie lassen die Wörter und Dinge von damals noch einmal aufleuchten. Ein Aufstand gegen die Sinnbegradigung der Welt.
1971 geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie. 1999 wurde er mit einer Arbeit über literarische Formen der Philosophie promoviert. Nach einem Tageszeitungsvolontariat arbeitete er als Redakteur und in der Unternehmenskommunikation. Bisherige Buchveröffentlichungen: Begriffs-Gesten. Philosophie als kurze Prosa von Friedrich Schlegel bis Adorno (Frankfurt / Main u.a. 2000); Die enteignete Poesie. Wie Medien, Marketing und PR die Literatur ausbeuten (Bielefeld 2011); Ware Geschichte. Die poetische Simulation einer bewohnbaren Welt...
Mehr zum Autor, weitere VeröffentlichungenPublico: »Der Philosoph, Soziologe und Germanist Michael Esders hat sich mit hochkarätigen Analysen zum Tage in alternativen Kreisen einen Namen gemacht. Insbesondere „Sprachregime“ (2020) und „Ohne Bestand“ (2022) weisen ihn als anspruchsvollen Theoretiker aus, dessen Studium zwar einigen intellektuellen Aufwand erfordert, dies aber durch Erkenntnisgewinn vergilt. Sein Warnbefund enthält die Diagnose einer umfassenden, orwellhaft mächtigen Sprachherrschaft, die Abweichungen von geforderten Verhaltensnormen zunehmend undenkbar machen. Auch vernutze der angestrebte sozialtechnische Umbau der Welt deren Bestände, ohne die wir auf den gesellschaftlichen Nullpunkt zurückgeworfen werden.
Ergänzend hat er nun – gleichfalls im Manuscriptum Verlag – ein Bändchen publiziert, das einen eher lockeren, gleichwohl gedankentiefen belletristischen Zugang zur nahen Vergangenheit erlaubt. Daher empfehle ich bei der Lektüre – der Autor wird mich deshalb hoffentlich nicht schelten – zunächst einmal eine spontane Annäherung. Danach lese man das Vorwort erst nach den 100 Impressionen, die Esders aus zahlreichen Erinnerungsfragmenten zur Jugend für diesen Band herausgefiltert hat. So erschließt sich seine Botschaft, der Abrichtung beim Spracherwerb als „Sinnbegradigung“ von Worten zu wehren, im günstigen Fall nebenher. Und der Genuss läge im unschuldigen Einblick in seinen epischen Zettelkasten als Autobiographie en miniature. [...]
Es wäre müßig, aus all diesen Beobachtungen, Eindrücken und Schlussfolgerungen ein Fazit zu ziehen. Denn dieser etwas andere Esders kommt weniger theoretisierend als erinnernd daher. Durchgängig ist allein das Bewusstsein des Autors über die Zeitdifferenz als Bruch der Erlebniswelt gegenüber dem heutigen Kosmos aus Film und Netz. Von daher vergewissert er sich erneut vieler in seiner Jugend noch griffiger Objekte und Impressionen: „Unbeabsichtigt ist das Wörterbuch meiner Kindheit auch ein Denkmal der verschwindenden Dinge geworden.« (Günther Scholdts gesamte Rezension lesen Sie hier.)