Lourdes - Mystik und Massen
Das letzte Buch des Kultautors Joris-Karl Huysmans erstmals auf Deutsch: sein eindrücklicher und realistischer Bericht über Lourdes, den Wallfahrtsort der Pilgermassen, der Kranken, des Kitsches und der Wunder.
Skeptisch und nur auf Drängen von Freunden reist der legendäre Schriftsteller Huysmans nach Lourdes, und was er dort antrifft, hat in der Tat nur noch wenig mit der unberührten Idylle der Grotte am Flüsschen Gave zu tun, wo 1858 der vierzehnjährigen Bernadette Soubirous mehrfach die Jungfrau Maria erschienen sein soll. Es herrscht ein Riesenauflauf: Menschenhorden fluten den Ort, darunter viele bedauernswerte Wesen mit den schauerlichsten Krankheiten. Glaubenskitsch der billigsten Art ist ebenso allgegenwärtig wie der medizinische Betrieb für die kranken Pilger und der routinierte Ablauf der zahllosen Messen und Prozessionen. Bei all dem Ablenkenden, Irritierenden und oft auch Oberflächlichen aber entdeckt Huysmans nach und nach auch das Tiefmenschliche, das Schöne und das Berührende, und er beschließt, über das Phänomen Lourdes zu schreiben. Das Buch erscheint 1906 und ist sein letztes - ein Zusammenklang von einfühlsamer Sprachkunst und kritisch beobachtender Reportage.
Tilmann Krause in der Welt
»„Was soll man zur Rosenkranz-Basilika sagen, diesem wassersüchtigen Zirkuszelt, dessen Schmerbauch sich unter den Füßen der Basilika bläht? Wie soll man dieses Machwerk beschreiben, dessen Innenraum vage an ein Kreuz-Ass mit jeweils fünf Altären in den Bögen seiner Blätter erinnert? Man würde gerne wissen, was für ein Stil das ist, denn es gibt hier etwas von allem, von byzantinisch über romanisch bis zur Anmutung einer Pferderennbahn und eines Kasinos, aber genau betrachtet hauptsächlich viel von einer Abstellhalle für Lokomotiven; fehlen nur die Schienen und die Drehscheibe in der Mitte des Hochaltars, damit die Lokomotiven beim Abfahrtssignal aus den Seitenschiffen auf die Esplanade herausfahren können.“
Ach, es sieht nicht gut aus für Demut und Durchdrungensein vom Glauben, wenn einer so herrlich schimpft und die Schalen seines Spottes über heilige Einfalt ausgießt. Hier kommt Huysmans, wie an vielen anderen Stellen auch, seine großartige, in der Schule des Naturalismus gelernte exakte und detailversessene Beschreibungskunst zugute, die alles, was er schrieb, so unglaublich plastisch vor dem geistigen Auge des Lesers erstehen lässt.
Mag er von den schrecklichen körperlichen Entstellungen berichten, die er bei den Hilfesuchenden in Lourdes erblickt und die oft von Krankheiten herrühren, die es Gott sei Dank inzwischen nicht mehr gibt, mag er die Gespräche mit Ärzten, Priestern, Nonnen wiedergeben, ihr Lebensumfeld schildern, seine eigenen Melancholieen, seine Hochgefühle: Immer ist hier ein Stilist am Werk, der „à point“ schreibt (und nicht so „saignant“ wie sein berühmterer Kollege Zola, von dem er sich nach anfänglichem Adeptentum brüsk abwandte).
Aber das ist es ja gerade: Sein Künstlertum, sein Künstlerrang stehen Huysmans auf die Dauer doch im Weg. Zwar bemüht er sich tapfer, die „zwei Seiten von Lourdes“ darzustellen, neben Ramsch, Budenzauber, Frömmlerei, Geschäftstüchtigkeit auch die erfreulichen Aspekte aufzeigen: aufopfernde Pflege, Nächstenliebe, Aufmerksamkeit, die allenthalben den Mühseligen und Beladenen zuteilwird. Ja, mag Huysmans sich sogar dazu aufschwingen, hier „die Erneuerung des Evangeliums“ zu konstatieren: Es ist und bleibt alles doch mit den Mitteln virtuoser Könnerschaft dargereicht. So sieht kein „sacrificium intellectus“ aus. So erlangt man nicht den Status, aus dem heraus in Richard Wagners „Lohengrin“ die Männer von Brabant voll Inbrunst singen: „Weil unsere Weisheit Einfalt ist.“
Einfalt war Huysmans Sache nicht. Und vielleicht soll sie das auch gar nicht sein. Denn wir brauchen diese beiden großartigen Schriftsteller nicht als Priester. Sondern als Sänger ihrer (oder unserer?) Sehnsucht.« (Die ganze Rezension lesen Sie hier.)