Putin ohne Vor-Urteil: „Ein Realpolitiker reinsten Wassers“

Im Gespräch mit Thomas Fasbender.

Im Westen wird Wladimir Putin häufig dämonisiert. Dem russischen Langzeitherrscher seien die Menschenrechte egal, er verfolge Oppositionelle im eigenen Land und müsse als kriegslüstern angesehen werden, warnen europäische und amerikanische Spitzenpolitiker seit Jahren. Sie verkennen dabei die kulturellen und historischen Voraussetzungen, erwidert indes Thomas Fasbender, der viele Jahre in Moskau lebte und nun eine Putin-Biographie geschrieben hat, die in wenigen Wochen erscheint. Im Gespräch mit Manuscriptum gewährt Fasbender vorab einen Einblick in sein neues Buch und bewertet Putins innen- und außenpolitische Rolle.

 

Manuscriptum: : Herr Fasbender, in Kürze erscheint von Ihnen eine über 500 Seiten starke Biographie über Wladimir Putin, den Sie als „Baumeister eines starken Staates“ charakterisieren. Was können wir von Putin lernen, wobei ich es Ihnen überlasse, ob „wir“ die Deutschen oder die Europäer sind? Oder anders gefragt: Warum haben Sie sich die Mühe gemacht, Putin so ausführlich vorzustellen?

Thomas Fasbender

Thomas Fasbender: Die Vorstellung, von jemandem wie Wladimir Putin lernen zu können, unterstellt eine Vergleichbarkeit der Verhältnisse. Oder der Bedingungen, unter denen ein Politiker agiert. Ein verbreiteter Fehler beim Urteilen über Russland liegt genau darin, dass wir Ähnlichkeiten unterstellen, wo eigentlich die Unterschiede größer sind. Das gilt für Putins Kritiker ebenso wie für seine Bewunderer; ich nenne diese beiden Gruppen Verächter und Verehrer.

Bevor wir daran denken, von Putin zu lernen, sollten wir versuchen zu begreifen, wofür er steht, was er verkörpert, wie er denkt und fühlt, wie er auf seine Umwelt reagiert. Dazu müssen wir die Umstände verstehen, unter denen sein politisches Wirken stattfindet. Mit einem Wort: wir müssen uns mit Putin und seinem Land, seiner Zeit erst einmal beschäftigen. Und zwar möglichst ohne Vor-Urteil. Damit beantworte ich auch Ihre zweite Frage, die nach dem Warum dieser Biographie. Es ist seit über zwei Jahrzehnten die erste eines deutschsprachigen Autors. Der Russlandexperte Alexander Rahr hat 2000 seine Vita des damals noch jungen russischen Präsidenten vorgelegt: „Ein Deutscher im Kreml“. Übrigens kein schlecht gewählter Titel. In der Zwischenzeit sind reihenweise deutschsprachige Monographien zum Thema Putin erschienen, aber keine klassische Biographie, also keine Lebenserzählung.

2015 hat der US-Amerikaner Steven L. Myers eine solche vorgelegt. Die wurde auch übersetzt und ist ausgesprochen lesenswert, spiegelt aber naturgemäß die amerikanische Perspektive. Wo Sie „Baumeister eines starken Staates“ erwähnen – Putins größte Leistung ist in der Tat, dass er den russischen Staat nach 1999 vom Kopf auf die Füße gestellt hat. Die Art und Weise, vor allem das Ergebnis, gefällt auch in Russland längst nicht allen. Es ist jedoch bemerkenswert, und darin liegt das Geheimnis seiner langen Regentschaft, dass er all die Jahre hindurch eine stabile Mehrheit seiner Bevölkerung hinter sich vereinigen konnte, die sogenannte Putin-Mehrheit.

Da den Verächtern Putins und Regimekritikern wie Nawalny regelmäßig viel Raum in der öffentlichen Debatte geboten wird, ist es vielleicht interessanter, die Motive der Verehrer auszuleuchten. Sie scheinen sich charismatische Persönlichkeiten wie Putin oder Viktor Orbán für Deutschland zu wünschen, wo es ein Defizit an Patriotismus und klarer Orientierung gibt. Zugleich sind es aber genau diese „Verehrer“, die aktuell vehement gegen eine Impfpflicht ankämpfen und entsetzt nach Weißrußland blicken. Gerät Putin durch seine Corona- und Osteuropa-Politik bei seinen „Verehrern“ ins Wanken? Was ist Ihr Eindruck und wie bewerten Sie diese heiklen Felder?

Es ist gut, dass Sie diese Frage stellen. In der Tat liegen Verächter und Verehrer, wenn es um die Einschätzung der politischen Persona Putin geht, ähnlich weit von der Realität entfernt. Wenn wir über die Verehrer reden: Sicher vertritt Putin ebenso wie die große Mehrheit seiner russischen Mitbürger eine konservative Weltsicht. Zugleich ist er ein durch und durch unideologischer Mensch. Keine der Ideologien seiner Zeit, Kommunismus, Kapitalismus oder liberale Demokratie, hat ihn je für sich eingenommen. Was ihn von Jugend an beherrscht, ist eine Idee, keine Ideologie: der Staat. Er ist auf den Staat fixiert, und das seit seiner Initiativbewerbung beim Leningrader KGB 1968, im Alter von gerade 16 Jahren.

Was immer dem Staat nützt, dessen wird er sich bemächtigen – Putin ist ein Pragmatiker, ein Realpolitiker reinsten Wassers, ein Machiavelli-Klon. Wenn er Patriot ist, so weil die Pflege des Patriotismus und der Gemeinschaft dem Staat bekömmlicher ist als die im Westen praktizierten Alternativen. Die Impfpflicht wird er nach dem gleichen Kriterium entscheiden: Nützt sie dem Staat oder nicht? Wenn er sie bislang nicht eingeführt hat, so aus pragmatischer Anerkennung der Schwierigkeiten, denen ein solches Instrument in Russland begegnen wird. Die dortige Mentalität verehrt Anarchie und Autorität zu gleichen Teilen; auch das erklärt die Verhältnisse im Land.

Noch ein Wort zu Belarus: Lukaschenkos Migranten-Luftbrücke hat man sich nicht im Moskauer Kreml ausgedacht. Natürlich könnte Putin einschreiten. Aber warum soll er den Westeuropäern beistehen? Die belegen ihn mit Sanktionen, wollen seine Pipeline nicht und unterstützen seine Gegner im russisch-ukrainischen Konflikt. Wenn sich die Deutschen mit ihrer Willkommenskultur zum Traumziel für zig Millionen Hungerleider machen – ist es Putins Aufgabe, sie vor den Konsequenzen zu schützen? So sieht man das aus der Moskauer Perspektive.

Neutral gefragt: Was macht Putins Staatsidee aus? Die Verächter Putins würden diese Frage vermutlich anders stellen und wissen wollen: Warum fehlt in dieser Staatsidee die Wertschätzung für die Gewaltenteilung?

Beginnen wir mit der Gewaltenteilung. In ihrer heutigen Form ist sie ohne die europäische Geschichtserfahrung nicht vorstellbar. Vom frühen Mittelalter an war die Macht in Europa geteilt. Zuerst zwischen König und Adel, später zwischen den Ständen, zuletzt zwischen den institutionalisierten Gewalten. Die spezifische Gewaltenteilung der Aufklärung war eine Reaktion auf den europäischen Absolutismus. Außerhalb von Westeuropa existieren völlig andere kollektive Erfahrungen, auch in Russland. Oder nehmen Sie 4000 Jahre China. Dort waren stabile Zeiten immer gleichbedeutend mit Zeiten einheitlicher, unangefochtener Macht. Anders als bei uns impliziert die Teilung von Macht oder Gewalt dort die Vorstellung von Stabilitätsverlust, nicht von gegenseitiger Kontrolle.

In Russland ist es ähnlich. Darauf geht auch die herrschende Staatsidee zurück. Vielleicht kann man Putins Vorstellungen in Anlehnung an den deutschen Staatsrechtler Carl Schmitt beschreiben. Kurz vor seiner ersten Wahl zum Präsidenten im Jahr 2000 hat er die Demokratie als „Diktatur des Gesetzes“ beschrieben. Man könnte auch formulieren: Für Putin ist der Staat zuallererst die Macht, die ihre Gesetze nicht nur setzt, sondern durchsetzt. Sein Staat dient keinen a priori vorhandenen Bürger- oder Menschenrechten. Er steht über den Interessen seiner Bürger und auch über der Gesellschaftsordnung. Das erlaubt die Anwendung flexibler Maximen wie „So viel Demokratie wie möglich, soviel Diktatur wie nötig“. Der Preis solcher Stabilität ist hoch: komplizierte Machtwechsel, Verlust an Dynamik, Kreativität und Innovation, Entfremdung weiter Bevölkerungsteile. Insgesamt kann man einen solchen Staat als suboptimal bezeichnen. Andererseits: Je nach historischer Lage ist der vielleicht überlebensfähiger als eine hochgezüchtete Demokratie.

Stabile Imperien „überlebensfähiger“ als die Demokratie? Könnte das nicht ein Trugschluß sein? 1989 hat doch anscheinend das Gegenteil bewiesen. In einem Kapitel Ihrer Biographie steht über Putins Jahre in Sachsen zur bewegten Wende-Zeit, er diente in vollem Bewusstsein – allerdings ohne es denken zu dürfen – einem „sterbenden Imperium an dessen ferner Peripherie“. Welche Konsequenzen hat Putin aus 1989 gezogen? Und warum glauben Sie nicht, dass sich ein solcher Zusammenbruch wiederholen könnte?

Ich spreche nicht von „stabilen Imperien“, sondern von einem autoritären Staat, der zwar subeffizient sein mag, aber je nach Lage auch resilient. Es ist ja nicht so, dass historisch gesehen grundsätzlich die Demokratien überleben. Gerade Demokraten sollten sich dessen immer bewusst sein. Auch die Sowjetunion ist nicht untergegangen, weil sie undemokratisch war. Ihr Wirtschaftssystem, wo jede private unternehmerische Initiative verboten war, war dem Kapitalismus im Westen weit unterlegen. Der beste Beleg dafür, dass es am Wirtschaftssystem lag und nicht an der mangelnden Demokratie, ist das chinesische Comeback der letzten 40 Jahre.

Zu 1989: Das Schlüsseljahr für Putin ist 1991, der endgültige Zusammenbruch der Sowjetunion. Eine wichtige Konsequenz für den heutigen Präsidenten ist die Ablehnung des Nationalismus als Keim der Zerstörung imperialer Strukturen. Die Russische Föderation besitzt eine Titularnation, die russische. In allem Übrigen ist sie multiethnisch und multikonfessionell. Eine verbindende Klammer ist die Russische Welt (Russkij Mir), ähnlich wie die Britishness im ehemaligen Empire eine Mischung aus Weltanschauung und Lebensstil. Einen Zusammenbruch dieses neuen Russlands analog zu 1991 halte ich in der Tat für unwahrscheinlich. Mit der UdSSR ist das letzte europäische Kolonialreich verschwunden (Zentralasien).

Zu seiner Hinterlassenschaft gehört das komplizierte Verhältnis der ostslawischen Völker: Russen, Weißrussen, Ukrainer. In der Region sind auch militärische Auseinandersetzungen und Grenzveränderungen möglich. In irgendeiner Zukunft fällt vielleicht die 1858/60 erworbene Äußere Mandschurei wieder an China zurück. Insgesamt jedoch halte ich Russland, und zwar sowohl Staat als auch Gesellschaft, für hinreichend stabil, um den Stürmen des Jahrhunderts gewachsen zu sein.

Herr Fasbender, vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Felix Menzel.